Perle...
Mit dem Himmelreich ist es wie mit einem Kaufmann, der schöne Perlen suchte. Als er eine besonders wertvolle Perle fand, verkaufte er alles, was er besaß, und kaufte sie.
Sich auf die Suche nach dem wahren Schatz in unserem Leben zu machen, als so vielen vermeintlichen Schätzen wie Reichtum, Erfolg und Ansehen hinterher zu laufen gibt unserem Leben wirklich Sinn, macht uns zufriedener... Manchmal besitzen wir diesen Schatz aber vielleicht schon und können ihn nur nicht erkennen, bis er sich verwandelt hat, wie die folgende Geschichte zeigt:
Der Tautropfen
Eines Morgens stürzte von den Blättern eines Baumes ein besonders großer Tautropfen kopfüber in das Meer. Die vielen Wellen rissen ihn mit sich. Verzweifelt versuchte er, sich zu befreien. Jeden Augenblick glaubte er, sich auflösen zu müssen. Da hörte er eine Stimme: "Rasch - komm' in mein Haus! Dort bist du sicher!"
Blindlings folgte er dem rettenden Ruf - alsbald aber schlossen sich hinter ihm die Schalen der Muschel. Zuerst atmete er dankbar auf. Aber langsam begriff er: "Ich bin hier zwar sicher, aber nicht mehr frei. Vielleicht werde ich nie mehr im Licht der Sonne in allen Regenbogenfarben leichten."
Schließlich vertraute er seinen Kummer seiner freundlichen Wirtin an. Da sagte die weise alte Muschel: "Wenn du dich trotzig wider dein Schicksal sperrst, wirst du immer wieder ohnmächtig Schmerz empfinden. Wenn du aber alles annimmst und geduldig bist, wird es leichter um dein Herz sein." Und geheimnisvoll fügt sie hinzu: "Dann wirst du von innen her immer fester werden. Eines Tages wirst du tausendmal mehr sein, als du warst, ehe du stürztest!"
Der Tautropfen seufzte. Aber er war bereit, diese Lehre zu befolgen, die er nicht ganz verstand. Er lebte von jetzt an still und ohne Klage, ganz in sich gekehrt in seinem Muschelhaus. Und richtig: Er fühlte erstaunt, dass etwas in ihm wuchs und wuchs und ihm viel Kraft gab. Erfreut dachte er: "Lebe wohl, was gestern war - das Heute kann nicht ewig dauern - vielleicht beginnt einmal mein großes Morgen."
Eines Tages sah er von der spaltbreit geöffneten Muschel aus etwas wie eine große, weiße Blüte im Wasser treiben. Es war aber keine Blume, sondern die Hand einer Perlentaucherin, welche die Muschel mit vielen anderen vom Fels pflückte. Bald lagen sie ausgebreitet auf einem Tuch am Strand und die geübten Hände der Mädchen brachen eine nach der anderen vorsichtig auf. Plötzlich rief eine von ihnen entzückt: "Oh seht, ich habe eine vollkommen schöne Perle gefunden. Sie sieht aus wie ein Tautropfen und schimmert in allen Regenbogenfarben. Die ist sicher ein Vermögen wert."
Alle blickten in ihre Hand, wo die kostbare Perle wie auf einem Lotosblatt ruhte. Die Perle, die am Anfang nicht mehr gewesen war als ein vergänglicher Tropfen Wasser unter tausend anderen Wassertropfen …
(Christina Henke-Weber)